Hasso Gehrmann
Einige Funde auf der Suche nach einer Logik der Subjektivität
Im Rückblick auf die Abfolge der eigenen Lebens- und Werkabschnitte entsteht bisweilen der Eindruck, dass sich diese einer bereits auf ein Ziel, eine Intention hin verlaufenden Linie entlang entwickelt hätten. Auch wenn dieser Eindruck primär auf der Möglichkeit der Rückprojektion beruht, bleibt die Frage offen, weshalb so manche Entscheidungen getroffen worden sind, die aus rein pragmatischen Überlegungen heraus als die nicht immer vernünftigsten bewertet werden könnten – sowohl aus damaliger Sicht als auch aus der retrospektiven. Mein Weg war jedenfalls ein viel verzweigter, der im Inferno des Zweiten Weltkriegs einsetzte und von da heraus mit der für mich überlebensnotwendigen Vision einer humaneren, „vernünftigeren“ Welt verbunden war.
Als Künstler, als der ich mich schon in meiner Jugend definierte, begab ich mich nach ’45 auf jenen Weg, den ich heute als die Suche nach einem Schlüssel (dem „System“) des subjektivlogischen Denkens/Gestaltens bezeichnen kann. Auch wenn ich solche Begriffe damals noch nicht bereit hatte, so zeigte die (für mich vor allem jüngste) Geschichte doch deutlich, dass die Gesellschaft weder mit wissenschaftslogischen Konstruktionen zu steuern ist noch dass sie selbst nach rein wissenschaftslogischer Systematik „funktioniert“. Es musste also etwas geben neben der Sprache der „Objektivität“, der Logik, etwas ihr Gleichwertiges, eine erst noch zu dechiffrierende – und damit allgemein „denkbar“ zu machende – Sprache der „Subjektivität“. In meiner ab 1948/49 zunehmend abstrakter werdenden Malerei suchte ich die sich über die Sprache der Kunst den Sinnen offenbarende Gestaltungsgrammatik zugleich auch verstandesgemäß zu dechiffrieren, und ging mein Vorhaben als Schüler von Karl Jaspers in Heidelberg desgleichen philosophisch an. Während ich bei der Abstraktion letztlich nur gegen einen „Nullpunkt“ der Gestaltung konvergierte und mir Jaspers' Existenzphilosophie zunächst nicht mehr (aber auch nicht weniger!) einbrachte als ein unbefangenes, „fröhliches“ Drauflosdenken, entwickelte sich in dem von meiner Frau Signe und mir künstlerisch ausgestalteten Heidelberger Wohnatelier ein multiples Kleinuniversum des Austauschs künstlerisch, philosophisch und emotional kreativer Gedanken und Aktivitäten – und damit ein sich sowohl aus formal-realen als auch virtuell-geistigen Faktoren manifestierendes Ambiente.
Hier versuchte ich nun anzusetzen, stellte das Tafelbild auf eine Nebenstrecke und begab mich in das Terrain des damals neuartigen Industrial Design. Gestalterisch-analytisches und techno-logisches Denken versprachen hier eine spannende Korrespondenz, deren Resultate sich in Form von Produkten zugleich an das Individuum richteten – umfassender jedenfalls, als dies Kunst und Philosophie in der Regel vermögen. Zwischen 1955 und 1960 entwarf ich für die AEG u.a. einen Bestseller-Staubsauger (Vampirette), einen Haartrockner (Fön), eine Kaffeemühle, eine Küchenmaschine und (gemeinsam mit meinem Freund Werner Müller) den AEG-Deluxe-Herd, der zum Herddesign-Wegweiser wurde. Wir gingen die Sache hier vom Funktions-Detail her an – mit dem Hinblick auf industrielle Großserien in Hightech-Machart. Dabei wurde allerdings nur jenes Planungsdenken beansprucht, dem die rein objektivlogische Sprache zugrunde liegt. Das moderne Industrial Design, das sich auf die Funktionalität einzelner Geräte etc. beschränkte, ging damit jener Vernunft, die mit dem Ich und dem Du einhergeht, aus dem Wege.
Darum verließ ich Ende 1960 die AEG, um zu der wesentlich kleineren, aber womöglich innovationsfreudigeren Elektra Bregenz zu gehen. Zwischendurch diskutierte ich kurz mit dem Schwiegersohn des Quelle-Chefs Gustav Schickedanz meinen möglichen Umstieg ins Versandhaus, war ich doch von der dortigen Versandlogistik und vor allem -mechanik (voll automatisierte Hochregallager) fasziniert. Ich sah darin das Modell einer künftigen Stadt, in der sich die Vertikalen der Hochhaustürme mit ebenso gigantischen horizontalen Transportwegen auf mehreren Ebenen zu einer Megamaschine vernetzen. Damals war die Vision einer perfekt rationalisierten Stadt noch immer Utopie, heute liegt sie als realisierbares Projekt in den Büros der Urbanisten parat – gleichsam in der Zielgeraden einer (mindestens) 150jährigen Architektur-Moderne. Dem Reiz der diesbezüglichen Futurologie trat damals aber schon mein vehementes Nein entgegen: Die (anorganische) Maschine grenzt – desgleichen wie die wissenschaftliche Logik – die Subjektivität, also das lebendige Ich, aus. Mir stand im Kontext Stadt die Idee einer „organischen Maschine“ näher, etwa im Sinne eines funktionstüchtigen Multiplums individueller „Zellen“. Ich steuerte fortan nicht die Megastadtmaschine an, sondern deren vitale Basis, den Standort des Ich und des Du, die „Kulturstammzelle“: also die Wohn-Lebenswelt. Um als sensible „Zelle“ innerhalb des wechselseitigen Kontextes von Privatheit und Öffentlichkeit in dem von mir angedachten Sinne funktionieren zu können, verlangte die Wohnung nach einer grundlegenden Innovation.
1965 begann ich in Bregenz endlich mit der Konstruktion einer „Totalen Wohnung“ (so der Arbeitstitel des Projekts).1 Die Aufhebung der starr fixierten Zimmer-Zellen und der Gebrauch von Dreh- und Liftmechanik erbringen hier auf 80m² Fläche 120m² Wirkungsgrad. Die Idee meines Wohnelemente-Baukastens wird vom Sektor Küche am ehesten veranschaulicht. Dort bedient die Hausfrau oder der Hausmann wie ein Klavierspieler mittels Fußpedalen, Tasten und Bildschirms eine frei im Raum stehende Skulptur namens Küche.2 Vermittels ihrer Lifthydraulik zur Rechten und dem Gerätekarussell zur Linken liefert sie dem Kochkünstler alles momentan Gewünschte zur Hand. Ohne ein einziges Mal aufstehen zu müssen, ist jedes Kochkünstlerspiel machbar. Dabei kann am rechtsseitigen Esstisch bereits serviert werden.
Die Küche mutiert hier quasi vom „größten Arbeitsplatz der Welt“ zum „größten Atelier“. Erstens ist keiner unserer Sinne so intensiv wie der Geschmack, zweitens zählt die Esskultur zu den ältesten Friedensritualen der Menschheit. Womöglich begleitet von Musik, bei stimmungsadäquat gewähltem Licht und unter der Obhut eines in seiner Erscheinungsform jetzt skulpturalen (Design-)Objekts, das jetzt Kaffee oder Digestifs spendet, feiert eine kleine Lebenswelt eine genüssliche Pause vom sachvernünftigen Draußen.
Im Grunde genommen entwickelte ich mit diesem Wohnprojekt eine intelligente Maschine, die sich jedoch nicht selbst genügt, sondern allenthalben zum Instrument für die allfälligen Ich-und-Du-Spiele wird. Wie später noch in meiner Bi-Logik-Theorie3 ersichtlich werden sollte, mündet die vollkommene objektive Logik schlussfolgernd in eine übergreifende Subjektivität ein.
1. Eine Publikation dieses Wohnprojekts ist derzeit am ETH-Wohnforum in Zürich in Vorbereitung.
2. 1970 wurde die Küche als teilweise funktionstüchtiges 1:1-Modell von der Firma Elektra Bregenz gefertigt und unter der Bezeichnung „Elektra Technovision. Die erste vollautomatische Küche der Welt“ auf internationalen Möbelmessen präsentiert. Auf dem «Troisième Symposium international de la cuisine» 1970 wurde sie als «La cuisine du XXIe siècle» bezeichnet, um Anfang der 1990er-Jahre als historisch innovativer Beitrag erkannt zu werden. Von 2000 bis 2002 war der „Prototyp“ Teil einer vom Züricher Museum für Gestaltung initiierten Wanderausstellung. Seit 2004 ist das nicht mehr funktionstüchtige Objekt als Leihgabe des Deutschen Museums München in der Schausammlung des Deutschen Hygienemuseums Dresden unter der Bezeichnung „Gehrmann Küche“ ausgestellt. S. dazu u.a.: Klaus Spechtenhauser (Hg.), Die Küche. Lebenswelt, Nutzung, Perspektiven. Basel-Boston-Berlin: Birkhäuser 2006, S. 62f.
3. Zuerst publiziert unter dem Titel Theoretische Kunst/Ontologie/Metakunst/Futurologie, Bregenz/Wien: Triton 1993
Erschienen in: DA aktuell, März 2008
Auszug s. auch: http://designaustria.at/aktuelles/f/einige-funde-auf-der-suche-nach-einer-logik-der-subjektivitat